Neu an der Fakultät ING: Prof. Leu war schon in seiner Studienzeit vom elektrischen Lichtbogen fasziniert und dessen nichtlinearen, „stochastischen“ Verhaltens, dass irgendwie schwer zu verstehen und zu beherrschen ist.
A. Schreyer: Herr Prof. Leu, Sie sind seit Anfang November 2020 Inhaber der Professur für „Elektrische Energieversorgung" an der Fakultät Ingenieurwissenschaften. Was sind Ihre neuen Aufgabenbereiche, die Sie als Professor übernommen haben?
Prof. Leu: Meine Aufgabe ist es, die Studierenden bei der Aneignung eines soliden Basiswissens und physikalisch-technischen Verständnisses auf dem Gebiet der Energie- und Hochspannungstechnik zu unterstützen, sowohl Studierende der Elektrischen Energietechnik als auch des Wirtschaftsingenieurwesens im Bachelor und Master.
Zu meiner Lehre gehören die Lehrveranstaltungen Hochspannungstechnik 1, Elektrische Energieversorgung, Elektrische Netze und Hochspannungs- und Isoliertechnik. Vor drei Jahren habe ich vertretungsweise Schaltgerätetechnik an der HTWK gelesen. Ich lernte die Gegebenheiten hier kennen und bekam Lust, an der HTWK zu arbeiten.
Lehre und Forschung bilden für mich eine Einheit. Als Forschende stellen wir uns Neuem und lernen selbst viel dabei. Unsere Aufgabe ist es, die Studierenden an die Projekte heranzuführen also die großen Problemstellungen „runterzubrechen“ und bearbeitbare, interessante Aufgaben zu stellen. Gelingt das, sind Motivation und Lerneffekt riesig. Aktuell beginnen wir ein DFG-Projekt an der HTWK weiter zu bearbeiten. Wir forschen zur Beanspruchung von Isoliersystemen durch hohe Mischspannungen mit mittelfrequenten Anteilen. Solche Spannungsformen treten in Gleichstrom-Energieversorgungssystemen, insbesondere aber bei induktiven Kopplern zukünftiger Energieversorgungsnetze, die zwei Netze mit unterschiedlicher Spannungshöhe und -form energetisch koppeln und zugleich gegeneinander elektrisch isolieren, also galvanisch trennen, auf. Ich bin es gewohnt, mit Fachkollegen verschiedenster Disziplinen zusammenzuarbeiten. Ich habe das Gefühl, dass dies auch mit den Kollegen des Instituts für Elektrische Energietechnik und Kollegen „nichtelektrischer“ Disziplinen gut gelingen wird. Für die Studierenden hat das viele Vorteile. Die Industrie sucht Ingenieure, die ihr Spezialwissen im Kontext neuer und fachfremder Aspekte auch bewerten und einbringen können.
A. Schreyer: Wie kommt es, dass Sie sich für diesen Forschungs- und Lehrbereich entschieden haben? Wussten Sie bereits vor dem Studium, welchen Weg Sie später einschlagen wollen?
Prof. Leu: Um ehrlich zu sein: ich wusste als Schüler nicht, welchen Weg ich gehen werde. Das Abitur zu erreichen, um studieren zu können, war das, was Viele wollten und so wollte ich dies auch. Ich spielte damals in einer Band – das trieb mich am meisten an. Nach einigen Schwierigkeiten bekam ich einen Studienplatz an der Technischen Hochschule Ilmenau. „Zwischendurch“ arbeitete ich auf Montage beim VEB Starkstromanlagenbau Halle-Leipzig. Ich lernte viel auf den Baustellen, vor allem Respekt vor der Fachlichkeit und Berufsehre der Monteure. Ahnung zu haben und etwas zu schaffen ist etwas Erfüllendes. Man sprach auch viel über die Ingenieure – die guten und die weniger guten. Wenn, dann wollte ich zu den Guten gehören. Nach dem Grundwehrdienst begann ich 1986 Elektrotechnik zu studieren, Vertiefung „Plasma- und Schalttechnik“. Das hatte ich mir nicht ausgesucht. Der elektrische Lichtbogen faszinierte mich aber dennoch. Ich kannte ihn schon vom Schweißen auf Montage. Sein Verhalten war nichtlinear, „stochastisch“, irgendwie schwer zu verstehen und zu beherrschen. Professor Rother, „mein“ betreuender Professor damals, war Physiker, er verknüpfte die Technik immer mit der Physik. Er rang mit uns um ein tieferes Verständnis der Dinge und regte an, das Verstandene mathematisch auszudrücken. Experiment und Simulation bildeten eine Einheit. Ich fand das gut. Mit der Physik des Schaltlichtbogens habe ich mich dann näher beschäftigt, in der Studentenzeit, in der Diplom- und Promotionsphase und in der Zeit, in der ich für Siemens (Schaltwerk Berlin) arbeitete. Es ging um die Löschung sowohl von Strömen im Ampere-Bereich als auch im Bereich mehrerer zehn Kiloampere. Es ging aber auch um das Verhalten von Leistungs- und Trennschaltern im Hochspannungsnetz. Eine wichtige Aufgabe war die Etablierung der Technologie des „Gesteuerten Schaltens“. Ich betreute Langzeit-Messungen im tschechischen Hochspannungsnetz. Nach diesem Siemens-Projekt promovierte ich 2000 und arbeitete als Postdoc an der TU Ilmenau auf dem Gebiet der Schaltgerätetechnik. Privat gründete ich eine Familie. Die Stadt und das Umfeld gefielen mir, besonders der Wald. Aufgewachsen bin ich in Halle, genauer in Halle-Neustadt – gar nicht so weit weg von Leipzig.
2005 wechselte ich mein Metier und begann, mich vertiefend mit Hochspannungstechnik zu beschäftigen. Ich übernahm neue Lehraufgaben und bearbeitete selbständig Forschungsprojekte. 2010 wurde mir als wissenschaftlicher Mitarbeiter die Möglichkeit gegeben, eine Forschergruppe „Hochspannungstechnologien“ zu gründen, die ich bis zum Wechsel an die HTWK Leipzig führte. Die Gruppe bestand aus durchschnittlich sechs Doktoranden, die ich anleitete und deren Arbeit ich über die von mir akquirierten Forschungsmittel finanzierte. Mit uns arbeiteten viele Studierende – 30 schlossen ihr Studium mit einer Masterarbeit auf dem Gebiet der Hochspannungstechnik ab. Wir entwickelten beispielsweise eine Technologie zum Aufschluss von Biomasse für die Biogaserzeugung, ein Prinzip zur Erhöhung des Wirkungsgrads von Elektrofiltern sowie komplexe Hochspannungs-Isoliersysteme für Wechsel- und Gleichspannung, wie sie in der Energie- und Medizintechnik gebraucht werden.
A. Schreyer: Was glauben Sie, sollten Studierende, die sich für ein Studium der „Elektrotechnik und Informationstechnik" entscheiden, an Fähigkeiten und Interessen mitbringen?
Prof. Leu: Die Studierenden sollten gewillt sein und Spaß daran haben, ein technisches Grundverständnis zu entwickeln und mit diesem zu arbeiten - verantwortungsbewusst, kompetent, kreativ und kommunikativ. Wer gern logisch-mathematisch und physikalisch-technisch denkt und sich bemüht, lösungsorientiert und diszipliniert zu arbeiten, studiert erfolgreich. Aufgabe des Lehrpersonals insbesondere der Professoren ist es, unterstützend zu wirken.
A. Schreyer: Welche neuen Projekte würden Sie gerne in Zukunft realisieren?
Prof. Leu: Die neue Technik zur Energieversorgung mit Gleichstrom interessiert mich sehr. Es gibt viele physikalische Effekte, deren Wirkung man kennen und quantifizieren muss, um ausgereifte technische Lösungen für neue Betriebsmittel zu entwickeln. Noch vor Weihnachten haben wir ein ZIM-Projekt beantragt, mit dem wir die Abbildung von Gleich- und Wechselspannung neu denken und entsprechende Prototypen bauen werden. Darauf freue ich mich.